"Guldas Fall" von C.S. Strangelove (csstrangelove)

"Guldas Fall" von C.S. Strangelove (csstrangelove)

1.

Die Sommerhitze hatte die Insel seit achtundzwanzig Tagen buchstäblich ausgetrocknet. Für die großen Hotels der Hauptstadt war Wassermangel kein Thema – von diesen hatte jedes eine Meerwasser-Entsalzungsanlage, damit die Frühbucher, Cluburlauber und erlebnishungrigen Touristen aus Europa auch in der erbarmungslosesten Trockenperiode weiterhin duschen und im azurblauen Pool mit Gegenstromanlage baden konnten. Im Hinterland jedoch verbrannte den Bauern das Gemüse auf den Feldern, das Vieh leckte das letzte Bisschen Brackwasser aus den Gräben am Straßenrand und die Dorfbewohner putzten sich ihre Zähne mit Wein, weil das Wasser aus den Zisternen bald aufgebraucht war. Die ganze Insel lechzte nach Regen. Nur Richard Gulda nicht.

Er blickte um sich. Wenigstens war es hier schattig. Die glasierten Kacheln, die Boden und Wände bedeckten, strahlten sogar ein bisschen Kühle aus, da sie nicht den ganzen Tag der stechenden Sonne ausgesetzt gewesen waren. Wie spät mochte es sein? Wieder hob er das Handgelenk und schob die Manschette seines Hemdes zur Seite, um den Arm sogleich mit einem Seufzer sinken zu lassen. Die teure Audemars war unwiderruflich hinüber, das Uhrglas zertrümmert, die Zeiger stehen geblieben. Doch die fahrige Geste war stärker. Richard Gulda war in seinem ganzen Berufsleben noch nicht ein einziges Mal zu spät gekommen. Seit zwanzig Jahren versah er seine Arbeit in der Firma mit der Präzision und Zuverlässigkeit eines Uhrwerks. Seine Vorgesetzten schätzten seine Pünktlichkeit; Gulda jedoch hatte sie ein Magengeschwür und die Angewohnheit, alle paar Minuten auf die Uhr zu schauen, eingetragen. Ja, er war sehr diszipliniert. Seine Disziplin hatte ihm geholfen, voran zu kommen und in der Firma aufzusteigen. Sie hatte ihm einen verantwortungsvollen Posten eingetragen. Einen Posten, der ihm Einblick gewährte in das schlagende Herz der Firma und ihm gleichzeitig die Verantwortung dafür übertrug, dieses gigantische Herz am Schlagen zu halten. Für Uneingeweihte waren die endlosen grünen Zahlenkolonnen, die auf seinem Computerbildschirm stetig abwärts rannen, kryptische Zeichen; er jedoch konnte sie deuten und darin lesen, so mühelos wie Kinder in einem Bilderbuch. Diese Zahlenkolonnen bedeuteten Aktien- und Devisenkurse, Umrechnungsfaktoren, Gewinne, Investitionen und Verluste. Diese Zahlen bedeuteten Geld; und Geld war das Blut, das durch das Adernetz der Firma rann und von Guldas Büro, dem Herzen aus, bis in die entferntesten Kapillaren dieses Organismus’ gepumpt wurde. Hier wurde es angereichert, dort belebte es, um schließlich wieder zurück zum Herzen gesaugt zu werden und seinen Kreislauf von Neuem zu beginnen.

Guldas Posten war wichtig. Er wusste das. Jeden Tag, wenn er den achtstelligen Zahlencode in den Ziffernblock an seiner Bürotüre tippte, wurde ihm aufs Neue bewusst, wie wichtig er für die Firma war. Sein Computerarbeitsplatz war durch drei Passwörter geschützt, die ein Zufallsgenerator alle zwei Wochen ausspuckte und die alleine ihm, Gulda, zugänglich waren. So war gewährleistet, dass niemand die endlosen Zahlenreihen auf Guldas Bildschirm manipulieren und den endlos schwellenden Strom umleiten konnte. Ein kleiner Bypass hier, ein kleiner Aderlass dort – schon wäre ein diskretes Nummernkonto in Genf oder auf den Cayman Islands übergeflossen. Sein Besitzer hätte den Rest seines Lebens damit verbringen können, die Zinsen zu verprassen; und der riesige, träge Krake, der die Firma war, hätte kaum den Piekser der Nadel gespürt, die seine Adern angezapft hätte.
Guldas Posten war eine Vertrauensstellung. Die Versuchung war groß; und nicht jeder hätte ihr widerstanden. Für Guldas Vorgänger war sie zu groß gewesen. Eines Tages waren Unregelmäßigkeiten in den endlosen, grünen Zahlenkolonnen aufgetaucht; und man hatte Untersuchungen eingeleitet. Sie dauerten nicht lange. Guldas Vorgänger war unvorsichtig gewesen. Die Hinweise auf einen Lebensstil, den er sich von seinem Gehalt allein nicht hätte leisten können, wurden bald zutage gefördert. Von Reisen gingen die Gerüchte; von teuren Uhren und noch teureren Frauen… Er werde die Konsequenzen nicht alleine tragen, drohte er noch an dem Tag, als man ihn feuerte. Er trug sie dann doch alleine – ganz alleine; denn seine Geliebten hatten die Uhren untereinander aufgeteilt und sich aus dem Staub gemacht; an dem Tag, an dem Guldas Vorgänger beschloss, die Konsequenzen zu tragen und sich an einem Deckenbalken seines unbezahlten Hauses erhängte.
Guldas Posten war ihm wie auf den Leib geschneidert; denn Gulda war loyal, pünktlich, zuverlässig und vertrauenswürdig. Auch ohne das schreckliche Schicksal seines Vorgängers zu kennen, hätten Richard Gulda die grünen Zahlenkolonnen und die Aussicht auf ein Leben in Luxus nicht in Versuchung führen können, denn Richard Gulda war zufrieden mit seinem Leben. Er verreiste nie; und Frauen waren ihm unheimlich. Außerdem liebte er seinen Posten und das Gefühl, eine große Verantwortung zu tragen, viel zu sehr, um beides aufs Spiel zu setzen. Mit einem Wort: Richard Gulda war glücklich. Außer vielleicht…

Es gab etwas, das Richard Gulda schmerzte. Respekt hieß das Zauberwort. Als Kind eines Gleisarbeiters hatte Gulda es schon vor seinen Mitschülern schwer gehabt, die nur ihresgleichen respektierten, sprich: Kinder, die genau wie sie schon mit sechzehn teure Armbanduhren und modische Jacken trugen.
Während seines Studiums hatte Gulda hart gearbeitet und sich von seinen Kommilitonen abgegrenzt, die gesellig das Studentenleben genossen, gemeinsam ausgingen und sich mit Mädchen trafen. Er war zuhause geblieben und hatte über seinen Büchern gebrütet; Büchern mit endlosen Zahlenreihen… Er war stets der Jahrgangsbeste – aber respektierten ihn seine Kommilitonen dafür? Sie schüttelten den Kopf über seinen Ehrgeiz, versuchten ihn zum Ausgehen zu bewegen, zogen ihn eine Weile auf und als das nichts fruchtete, wandten sie sich ab und sprachen und lachten hinter seinem Rücken über ihn.
Nachdem er sein Studium mit Auszeichnung abgeschlossen hatte, fiel es ihm leicht, eine Arbeit in einer hoch angesehenen Firma zu finden. Hier hatte er fünfzehn Jahre lang Zahlen addiert, Gewinne ausgerechnet, die Rechnungen anderer kontrolliert, ein gewissenhafter Mitarbeiter unter vielen. Niemand, dem besondere Anerkennung zuteil wurde. Bis ihn eines Tages sein Chef beiseite genommen hatte.

„Gulda. Der Junior will Sie sehen. Es ist wichtig – und Ihre große Chance! Also vermasseln Sie’s nicht!“
„Aber – wann will er…“
„Jetzt! Und wenn er jetzt sagt, meint er: sofort!“
„Und… wie komme ich dahin – ich meine: wo ist überhaupt sein Büro?“
„Nehmen Sie den Fahrstuhl, Mensch, und fahren Sie ganz nach oben! Los jetzt! Und… Gulda!!!“
„Bitte?“
„Rücken Sie in Gottes Namen Ihre Krawatte zurecht, Sie Höhlenmensch!“

„Der Junior“ war Carlo Kronzucker jun., Sohn des Firmeninhabers, Leiter der Versicherungsabteilung und damit Guldas höchster Vorgesetzter. Doch Carlo Kronzucker war noch mehr: Er war der uneingeschränkte Herrscher in dem Palast aus Marmor, Stahl und Glas, in dem Gulda seit fünfzehn Jahren gewissenhaft an der Vermehrung des Kronzucker-Vermögens arbeitete. Es gab nur einen Mann, der noch höher stand, und das war Carlo Kronzucker sen., der große Boss. Doch diesen weißhaarigen Giganten der internationalen Finanzwelt hatte Gulda noch nie während der gesamten fünfzehn Jahre zu Gesicht bekommen. Kronzucker sen. fuhr in einem gewaltigen Chrysler mit verspiegelten Scheiben; benutzte einen eigenen Aufzug, der ihn in 5,4 Sekunden mit geschmeidigem Zischen aus der Tiefgarage in sein Büro im sechzehnten Stockwerk beförderte und erteilte seine Anweisungen stets schriftlich und nur an die ihm direkt unterstellten Führungskräfte.
Der Junior hingegen war Gulda bestens bekannt. Kronzucker jun. war ein Mann mit breitem Gesicht, breiten Schultern und ausladenden Bewegungen. Er konnte nur ein paar Jahre jünger als Gulda sein, pflegte aber sein sportliches Erscheinungsbild mit solchem Nachdruck, dass er mit ewiger Jugend gesegnet zu sein schien. Er trug stets marineblaue Blazer aus feinstem italienischen Tuch und war das ganze Jahr über sonnengebräunt. Er pflegte einen jovialen Umgang mit seinen Angestellten, nickte manchen einen kurzen Gruß zu oder klopfte einem anderen auf die Schulter. Meist folgte dann noch eine halblaut geraunte obszöne Bemerkung, begleitet von einem angedeuteten Boxhieb auf die Brust des Mitarbeiters, worauf der solchermaßen Ausgezeichnete und sein oberster Dienstherr in schallendes Gelächter ausbrachen. Gulda hatte den Junior einige Male in der Abteilung gesehen; und einmal hatte er mit ihm zusammen im Fahrstuhl gestanden. Ein Funke des Erkennens war über das breite, gebräunte Gesicht des Juniors gefahren, als ihre Blicke sich begegneten; dann hatte er eine Reihe makelloser, weißer Zähne zu einem freundlichen Lächeln entblößt und Gulda zugenickt. Gulda war wie vom Donner gerührt und war zu keiner Reaktion fähig gewesen.
Und jetzt – Jahre danach – wollte der Junior ausgerechnet ihn, Gulda sprechen? Er war sich keines Fehlers bewusst; und was hatte der Chef mit „großer Chance“ gemeint?
Gulda schwitzte.

2.

Von seinem Platz aus konnte Gulda die Sonne nicht sehen. Aber das helle Viereck aus Sonnenlicht kletterte langsam die Wand hinauf und ließ die glasierten Kacheln in hellem Türkis erglühen. Das Viereck und die Geräusche draußen, die wieder zunahmen, sagten Gulda, dass die Sonne den Zenith überschritten hatte. Die gleißende Mittagshitze war vorüber. Die bunten Finken, die ihre stete Futtersuche zur Mittagszeit unterbrochen hatten, um im Schatten zu dösen, schwirrten wieder umher, tschilpten und zankten sich. Die Zikaden, die in den alten Bäumen des Anwesens saßen und ihr Konzert einstellten, wenn die Hitze am Mittag zu groß wurde, setzten wieder ein. Und noch ein Geräusch war zu hören. Gulda brauchte eine ganze Weile, bis ihm klar wurde, um was es sich handelte – so fremd war dieses Geräusch. Es war das leise Rascheln der Zweige und Blätter, die ein leiser Windhauch bewegte. Seit vier Wochen hatte tagsüber kein Wind die heiße Luft über der Insel bewegt. Manchmal war nachts eine Brise über die See gekommen, die ein wenig für Abkühlung gesorgt hatte; aber der Wind, auf den alle hofften, blieb aus. Wind hätte kühle, feuchte Meeresluft bedeutet, hätte Wölkchen mitgebracht, die an den Hängen der Berge hochgestiegen wären und sich gesammelt hätten, um schließlich den heiß ersehnten Regen zu bringen. Doch bisher war die Hoffnung vergebens gewesen. Sollte dieser Wind, der jetzt in den Blättern der Olivenbäume und Akazien spielte, anhalten, konnte das durchaus ein Zeichen für das baldige Ende der Trockenperiode sein.
Richard Gulda hustete trocken und versank wieder ins Grübeln.

Das Treffen mit dem Junior in dessen luxuriösem Büro, dessen Interieur der Brücke eines noblen Kreuzfahrtschiffes ähnelte und mit seinen Messinglampen und seinem Duft nach Leder und Zigarren in krassem Gegensatz stand zu dem schlecht gelüfteten Großraumbüro mit den singenden Leuchtstoffröhren, in dem Gulda seinen Dienst versah, war im Grunde der Anfang vom Ende gewesen.
Richard Guldas Herz hatte einen Sprung gemacht, als ihm der Junior leutselig vom Ende des Mannes berichtet, der „das Herz“ von InterSec bislang am Schlagen gehalten hatte und ohne Umschweife Gulda zu dessen Nachfolger bestimmt hatte.
Gulda hatte etwas gestammelt von „große Auszeichnung“, „Vertrauen“ und „würdig erweisen“ und war umgehend in sein neues Büro geführt worden. Als sich die Tür der Kommandobrücke hinter ihm schloss, stand Kronzucker jun. in der Mitte des Zimmers, zwischen Leder und poliertem Mahagoni, und grinste sein Haifischgrinsen.
Vom nächsten Tag an empfing Gulda seine Weisungen direkt vom Junior; und der Junior war der Einzige, der seine Arbeit kontrollierte. Er schien hochzufrieden zu sein. Als Gulda ein Jahr lang auf dem neuen Posten verbracht hatte, stand eines Tages der Junior morgens vor seinem Büro, empfing Gulda mit breitem Grinsen und machte ihm eine elegante Armbanduhr zum Geschenk.

„Kann das alte Ding nicht mehr sehen“, meinte er mit Blick auf Guldas alte Digitaluhr.
„Sie müssen die Firma in gewisser Weise auch nach Feierabend repräsentieren, wissen Sie!“

Damit legte er Gulda die goldene Audemars an, beförderte die Digitaluhr mit elegantem Schwung in den nächsten Papierkorb und winkte noch einmal zum Abschied über die Schulter.

„Herzlichen Glückwunsch zum Jubiläum!“ grinste er.

Richard Gulda kicherte hysterisch, als er in seinem Büro alleine war. Endlich! Jetzt wurde er endlich respektiert. Seine Leistungen wurden gewürdigt! Er war vom Juniorchef persönlich ausgesucht und für würdig befunden worden, diesen Posten zu bekleiden. Und damit nicht genug: seine Arbeit wurde so hoch geschätzt, dass ihm der Junior persönlich gratulierte und ihn mit einem Geschenk der Firma auszeichnete!
Von diesem Tag an hatte Gulda große Stücke auf den Junior gehalten. Er tat seine Arbeit sehr gewissenhaft, und wurde jedes Jahr pünktlich dafür belohnt. Mal mit einer Rundreise durch Ägypten, mal mit einem riesigen Ledersessel, den eine Spedition zu Gulda nach Hause lieferte. Die beiliegende Glückwunschkarte war schwungvoll mit „Kronzucker II“ unterzeichnet.

Ungefähr zu dieser Zeit bemerkte Gulda Unregelmäßigkeiten in den Zahlen. Ein wenig von dem Herzblut, das in den Organismus strömte, kehrte nicht zurück. Neue Posten tauchten auf; und als Gulda sie verfolgte, stellte er fest, dass die Adern der Firma an vielen Stellen winzig kleine Lecks bekommen hatten. Aus diesen Nadelstichen tröpfelte stetig eine kleine Menge Geldes und versiegte irgendwo im alpenländischen Raum in einer kleinen Stadt namens Vaduz.
Gulda bekam vor Aufregung Schluckauf. Sein Tick machte sich wieder bemerkbar: unter Stress begann Guldas Oberlippe nervös zu zucken wie bei einem Kaninchen. Seine Unruhe wurde für jeden offensichtlich; und das steigerte seine Nervosität noch zusätzlich. Er prüfte die Zahlen nach, wieder und wieder – doch das Ergebnis blieb das Gleiche. Nein, er hatte keinen Fehler gemacht. Das konnte nur bedeuten, dass die einzige Person außer ihm, die in diesem Sektor noch so weit reichende Befugnisse hatte, nämlich Kronzucker jun., einen Fehler gemacht hatte. Wie sollt er sich verhalten? Eine ganze Weile tat er überhaupt nichts. Hoffte, das Problem würde sich von selbst regeln. Lächelte und schwitzte vor Aufregung und Anspannung, wenn der Junior mit seinem Haifischgrinsen auf ihn zutrat und von nichts zu wissen schien. Dienerte zum Abschied und biss sich gleich darauf ärgerlich auf die Lippe, weil er das Problem mit keiner Silbe erwähnt hatte.

Schließlich hielt er es nicht mehr aus. Bat um einen Termin. Die Chefsekretärin bestellte ihm, Herr Kronzucker jun. würde sich freuen, Herrn Richard Gulda in einer Woche privat, in der Villa Kronzucker, zu empfangen. Ihr Blick ließ keinen Zweifel daran, dass dies nicht so sehr eine Einladung, als vielmehr eine Aufforderung war, der Gulda tunlichst Folge zu leisten hatte. Und das tat Gulda pflichtschuldigst.

Richard Gulda verließ die Villa Kronzucker völlig zerstört. Kronzucker war in keiner Weise zerknirscht. Er hatte überhaupt kein Schuldbewusstsein. Er hatte nicht einmal den leisesten Versuch unternommen, Guldas leise Vorwürfe abzustreiten oder sich zu rechtfertigen. Er hatte vor ihm gestanden und sein Raubtiergebiss gebleckt.
Gulda hatte gefühlt, wie ihm die Knie weich wurden. Ihm wurde buchstäblich der Boden unter den Füßen weggezogen. Dann hatte Kronzucker ihn in einen Sessel komplimentiert, hatte seinen Sessel ganz nahe herangerückt und seinen breiten Kopf direkt vor Guldas Gesicht gestreckt.

„Gulda. Sie sind ein guter Mann, Richard Gulda! Ich weiß, Sie werden das Richtige tun, nicht wahr? Von unserem kleinen Spesenkonto braucht niemand zu erfahren, richtig? Es wäre besser für uns alle, wenn niemand davon erfährt! Schhh… lassen Sie mich ausreden.
Nehmen wir einmal an, jemand erfährt davon. Wen wird man wohl zuerst verdächtigen? Hm? Ganz recht. Man wird fragen, warum Sie nicht schon längst Alarm geschlagen haben. Und dann wird man Nachforschungen anstellen, Gulda. Man wird in Ihrem Privatleben herumspionieren. Man wird sich an Ihre Reisen erinnern; und an Ihre neuen Möbel. Man wird sich über die nette kleine Uhr an Ihrem Handgelenk wundern. Und schließlich wird man Ihr Konto überprüfen.
Was glauben Sie denn – Ihre kleinen, monatlichen Extravergütungen, die ich Ihnen habe zukommen lassen, die hat nicht etwa die Firma bezahlt! InterSec sind Sie egal, Gulda! ICH habe sie bezahlt, Gulda, weil ich mich immer auf Sie verlassen konnte! Natürlich nicht aus meinem Privatvermögen – sondern von unserem kleinen Spesenkonto! Sie verstehen? Na also.“

Des Juniors Lächeln funkelte.

3.

Und so war es weiter gegangen. Jahrelang. Gulda hatte zugesehen, wie das „Spesenkonto“ stetig anwuchs. Unbemerkt von allen, außer ihm. Er hatte nach den Anweisungen des Juniors manchmal Kanäle wieder verstopft und andere geöffnet. Er hatte weiterhin die Anerkennungen in Form kleiner, aber teurer Geschenke genossen, die ihm der Junior nie zu machen vergaß. Er hatte die jährliche Extravergütung zu Weihnachten mit einem leisen Gefühl der Dankbarkeit und des Stolzes akzeptiert, ganz so, wie man es tut, wenn man verdientermaßen für eine schwere Arbeit ausgezeichnet wird.

Dann, eines Tages, hatte ihn der Junior wieder zu sich nach Hause bestellt.
Mit dem kleinen Rinnsal, das auf sein Spesenkonto floss, wollte er sich jetzt nicht mehr zufrieden geben. Ein großer Coup, das war es, was Kronzucker jun. sich jetzt vorstellte; und dazu brauchte er seinen einzigen Vertrauten. Seinen Komplizen.
Gulda war davor zurückgeschreckt: Die ganze Situation machte ihm Angst. Aus den kalten, grauen Augen des Juniors blitzte die Gier. Er redete laut, sprach, als ob sie nichts zu verbergen hätten und richtete seinen massiven Zeigefinger auf Guldas Gesicht.
Und das alles, während dieses Mädchen anwesend war. Gulda hatte noch nie ein so schönes Mädchen gesehen. Sie war gut und gerne fünfundzwanzig Jahre jünger als Kronzucker, hatte dunkelbraunes Haar und eine milchweiße Haut. Gulda ertappte sich dabei, wie er sich vorstellte, wie der massige Junior und dieses zerbrechliche Wesen mit dem Kindergesicht im Bett waren – er tief braun gebrannt, sie mit ihrer reinen weißen Haut…
Guldas Oberlippe begann nervös zu zucken.
Kronzucker bemerkte Guldas Verlegenheit und Erregung, bemerkte, dass sie ihn anmachte und zog ihn auf. Er lachte schallend über Guldas linkisches Wesen. Gulda wurde trotzig; er weigerte sich, den Coup durchzuführen, den Kronzucker ihm aufzwingen wollte.
Der Schlag traf ihn völlig unvorbereitet in die Magengrube. Der Schmerz explodierte förmlich in ihm und er krümmte sich auf dem Teppich zusammen, die milchweißen Füße des Mädchens direkt vor seinem Gesicht. Und dann hörte er es. Es schnitt in sein Innerstes wie tausend Rasierklingen: sie lachte!
Gulda zerbrach. Es waren nicht so sehr die Drohungen seines Chefs, die seinen Widerstand brachen; nicht der körperliche Schmerz, vor dem er, wie viele dickliche Menschen, panische Angst hatte. Es war das glockenhelle Lachen des Mädchens, das Gulda in diesem Moment völlig zerstörte.


Alles lief wie geplant. Niemand bemerkte die Transaktionen. Kronzucker jun. verreiste, wie er es öfter tat; und zufällig nahm sich Gulda ein paar Tage später ebenfalls Urlaub. Sie trafen sich abends in Kronzuckers Finca auf den Azoren. Hier sollte Gulda seinen Anteil bekommen. Dann wollten sie getrennte Wege gehen.

„Auf diesem Konto“ – der Junior reichte Gulda einen Zettel und eine Codekarte – „liegt Ihr Anteil! Geben Sie nicht alles auf einmal aus!“

„Danke sehr!“

„Dann trennen sich jetzt unsere Wege, Gulda!“ sagte der Junior leutselig.

„Es war mir eine Ehre, mit Ihnen zu arbeiten!“ sprach Richard Gulda.

Kronzucker blickte ihn an. Einen Augenblick lang schien es Gulda, als blitzte so etwas wie Hochachtung in den kalten, grauen Augen seines Chefs auf. Doch dann legte der Junior den breiten Kopf in den Nacken und lachte. Er lachte dröhnend, lachte, dass es ihn schüttelte. Gulda erschrak und wurde rot. Was hatte er denn jetzt wieder gesagt, das so lustig war? Er mochte es nicht, wenn er anderen Leuten Anlass zur Heiterkeit gab. Kronzucker schnappte nach Luft. Die Tränen standen ihm in den Augen, so sehr amüsierte ihn dieser komische kleine Mann, der da im Trenchcoat vor ihm stand und von Ehre sprach.

„Sie sind eine ulkige Nummer, Gulda! Immer die Form wahren, wie? Hahaha… steif und trocken wie ein Hundeköttel in dieser verfluchten Hitze, bis zuletzt.“

Kronzucker wischte sich die Lachtränen aus den Augen.

„Wenn man Sie so reden hört, würde kein Mensch auf den Gedanken kommen, was Sie so alles auf dem Kerbholz haben. Dass Sie treue alte Krämerseele gerade eben die Auslandskonten von InterSec leer geräumt haben. Dass Sie kein ehrlicher Buchhalter, sondern ein ganz gerissener Schieber auf der Flucht sind. Hihi… Unbezahlbar! Wenn Sie den Mund aufmachen, klingt das immer, als wären Sie ein richtiger Ehrenmann. Langweilig, dass einem die Füße einschlafen, aber ein Ehrenmann durch und durch!“

Gulda bemerkte, dass sein Mund offen stand.

„Erlauben Sie mal!“ protestierte er lahm. „Ich BIN ein Ehrenmann!“

Einen Moment lang sah es so aus, als würde Kronzucker sich wieder ausschütten wollen vor Lachen. Dann trat ein gemeiner Zug in sein Gesicht, das vom Lachen rot war. Er machte einen Schritt auf Gulda zu und hob einen riesigen Zeigefinger.

„Nein, sind Sie nicht! Sie sind ein ganz gewöhnlicher Gauner, Gulda! Sie sind ein Dieb, ein bezahlter Handlanger, nichts weiter. Sie sind käuflich, genau wie alle andern auch. Und selbst in ihrer Verbrecherkarriere sind sie genauso schäbig geblieben wie in Ihrem bürgerlichen Leben. Nicht einmal hier haben sie Größe gezeigt. Sie haben nie daran gedacht, mehr zu fordern. Sie haben die Brocken gierig und sabbernd aufgeschnappt, die ich Ihnen zugeworfen habe. Ihr Vorgänger ist immerhin vor mir gestanden und wollte mehr. Eines Tages wollte er zuviel, aber bis dahin hat er sich ganz schön bedient aus dem großen Topf! Sie dagegen sind kleinlich, Gulda, in allem was Sie tun! Kleinlich in Ihrer Ehrlichkeit, kleinlich in Ihrem Verbrechen. Kleinlich klammern sie sich selbst jetzt noch, wo Ihnen die Welt offen steht, an Ihre Kleinbürgerwürde! Sie sind ein Versager, Gulda, ein schäbiges Nichts, und das werden Sie immer bleiben! Und noch eins:“

Der Junior kam noch einen Schritt näher; und sein Zeigefinger zeigte auf Gulda wie eine Waffe.

„In ein paar Stunden bin ich hier weg, dann geht mein Flugzeug. Was Sie machen, ist mir scheißegal, solange Sie mir nie wieder unter die Augen treten. Aber in der Zeit, in der ich mit Ihnen hier herumsitze, ich warne Sie, vergessen Sie nie wieder Ihren Platz! Sie haben schon einmal versucht, bei mir aufzumucken; das nächste Mal bluten Sie dafür. Verstanden? Tun Sie nie wieder, als stünden Sie mit mir auf einer Stufe! Ein für alle Mal: Ihr Platz ist dort“

– er zeigte auf den Fußschemel vor dem Kamin –

„und meiner ist hier!“

Damit ließ er sich in den krachenden Ledersessel fallen und bedachte Gulda ein letztes Mal mit seinem Haifischgrinsen, bevor er sich wieder seiner Lektüre zuwandte.

4.

In Gulda begann es zu kochen. Er merkte, wie seine Ohren glühten. Jetzt hatte er verstanden! Dieser Mann hatte ihn nicht auf seinen Posten gesetzt, weil er ihn achtete. Kronzucker jun. hatte nach einem leichten Opfer für seinen großen Coup gesucht, nachdem Guldas Vorgänger zur Unzeit verschieden war – oder zum Schweigen gebracht worden war. Er hatte ihn zu seinem Komplizen gemacht – aber nicht, weil er in Gulda einen ebenbürtigen Geist gefunden hatte, dem er vertraute und den er respektierte, nein! Er hatte ihn in diese Geschichte hineingezogen, weil er in Gulda ein billiges Werkzeug sah – einen Handlanger, nichts weiter. Er, Gulda, hatte alles aufgegeben, was ihm wichtig gewesen war, weil er wie ein Licht am Ende des Tunnels die Möglichkeit gesehen hatte, endlich respektiert zu werden. Endlich die Achtung zu bekommen, die ihm immer verwehrt geblieben war. Und wenn schon nicht wegen seiner treuen Dienste für InterSec oder seine überragende Abschlussarbeit, dann wenigstens für einen genialen Coup, wie ihn nur ein wahrhaft genialer Meisterverbrecher planen und ausführen konnte. Dafür hatte er seinen Posten geopfert, seinen Alltag, der ihm Halt gab, sein Zuhause. Dafür hatte er sogar seine Abneigung gegen das Fliegen überwunden. Er hatte einen Lebensabend in der Fremde in Kauf genommen, denn er würde nie mehr nach Hause zurückkehren können. Alles hatte er geopfert, in der Hoffnung auf… Respekt. Doch nicht einmal jetzt, wo er und Kronzucker in einem Boot saßen, beide Verbrecher auf der Flucht, erkannte dieser Mann ihn als Partner an. Respekt? Ha! Keine Spur. Es war pure Verachtung, die ihm entgegenschlug. Dieses arrogante Schwein hatte ihn gedemütigt. Schon wieder! Schon wieder!!!

Gulda starrte wie gebannt auf den breiten Schädel des Juniors, der vor ihm über die Lehne des Sessels ragte, und vor seinem inneren Auge liefen in Sekundenschnelle Bilder ab wie in einem alten, schadhaften Film… Er sah den Junior seinem Abteilungsleiter auf die Schulter klopfen und sein Haifischgrinsen aufblitzen. Eine Sekretärin grüßte die beiden Männer im Vorübergehen. Beide schauten ihr anerkennend hinterher, auf ihre langen Beine, auf ihren Arsch. Er sah Kronzucker dem Abteilungsleiter spielerisch gegen die Brust boxen und eine leise Bemerkung machen – es ging offenbar um die Sekretärin. Er hörte, wie die beiden Männer ihr schallendstes Männerlachen lachten.
Er stand wieder neben Kronzucker im Fahrstuhl. Er sah den Junior grüßen und erlebte wieder, wie er damals starr vor Ehrfurcht gewesen war. Er sah die weißen Zähne sich öffnen wie einen Raubtierrachen.

„Gulda! Hören Sie mir jetzt gut zu, denn ich sage es kein zweites Mal!“

Das war in Kronzuckers Wohnung. Gulda hatte ihn mit dem Vorwurf der Veruntreuung konfrontiert und war von einer Sekunde auf die andere zwischen die Mühlen geraten. Eben noch im Bewusstsein der eigenen Unangreifbarkeit, in der nächsten unter des Juniors Absatz um Gnade winselnd, der drohte, ihn zu zerquetschen.

„Sie werden tun, was ich Ihnen befehle, oder Sie enden wie Ihr Vorgänger. Niemand wird Ihnen glauben, niemand! Oder denken Sie vielleicht, das Wort eines elenden kleinen Buchhalters hat neben meinem irgendeine Bedeutung? He?“

Neben Guldas Schemel stand ein zierliches Rauchtischchen; darauf ein schwerer Aschenbecher. Auf dem Boden des Aschers war ein Etikett, echt Kristall stand darauf und: Made in Bohemia. Gulda hatte ihn Stunden zuvor vorsichtig aufgehoben und bewundernd registriert, wie schwer er war. Ohne es zu bemerken, stahl sich nun seine zitternde Hand zu dem Aschenbecher, berührte ihn, umklammerte ihn…

Gulda dachte an das letzte Treffen in Kronzuckers Villa, wie der Junior ihn gedemütigt hatte, gedemütigt vor seiner - des Juniors – Geliebten. Er dachte an die milchweiße Haut dieser Frau, an den spöttischen Ausdruck auf ihrem Kindergesicht, an ihre langen, nackten Beine und wie er sich dafür hasste, dass er sie begehrte.

Er sah sich wieder auf dem Boden liegen, auf dem weißen Teppichboden, zu Füßen dieser Frau. Diese kleinen Füße mit den rot lackierten Zehennägeln direkt vor seinem Gesicht. Er hatte bemerkt, dass sie nichts trug unter ihrem Kimono. Er spürte wieder Kronzuckers Ledersohle im Genick. Und hörte ihr verächtliches Lachen. Wut, Hass und Scham kochten erneut in ihm auf und seine Oberlippe begann, nervös zu zucken. Und dann nahm er alle Kraft zusammen und schwang den Ascher hoch über seinen Kopf. Nie wieder wollte er auf dem Boden kriechen müssen! Nie wieder sollte der Junior ihn demütigen! Er hatte begriffen: Respekt bekam immer nur der, der am mächtigsten war. Und wer war am mächtigsten? Derjenige mit dem größten Scheckbuch! Gut, dann würde Richard Gulda sich diesmal nicht mit einer lumpigen halben Million abspeisen lassen. Ihm würde alles gehören. Und alle, alle müssten ihn endlich respektieren!

Mit einem dumpfen Schlag traf der schwere Ascher Kronzuckers Hinterkopf. Der Aufprall riss ihn aus Guldas Hand. Mit einem ohrenbetäubenden Knall zerbarst das Kristallglas auf dem Boden in tausend glitzernde Scherben, die quecksilberartig auseinanderspritzten.

„Gulda!“ sagte der Junior und sprang auf. „Sind Sie wahnsinnig geworden?“

Er fasste sich an den Hinterkopf. In seinem Blick mischten sich fassungsloses Staunen und Entsetzen, als er die blutige Hand herabnahm.

„O mein Gott! Ich bin verletzt! Du erbärmliches Schwein… einen Arzt! Schnell – ich muss…“

Und der Junior stürzte zur Tür. Er war erstaunlich schnell. Schon hatte er sie aufgerissen, schon war er hindurch, da fasste sich Gulda. Mit drei Sätzen war er durchs Zimmer. Er flog förmlich über die Galerie. Er nahm fünf Treppenstufen auf einmal. Auf dem Treppenansatz holte er Kronzucker ein. Mit einem wilden Schrei sprang er ihn an. Der Junior verlor das Gleichgewicht, gemeinsam stürzten sie die letzten Stufen hinunter. Der Junior kämpfte sich hoch. Aus einer Platzwunde auf der Stirn rann ihm Blut über das Gesicht und in die wilden Augen. Mit blutigen Händen griff er ins Leere, taumelte auf die Eingangstür zu. Doch Gulda klammerte sich an sein Bein wie ein Terrier im Blutrausch, wurde mitgeschleift, ließ nicht locker. Der Junior stolperte über den zerknüllten Teppich, krachte gegen die Eingangstür und ging mit einem heiseren Laut zu Boden. Und dann war Gulda über ihm, die Hände zu Klauen gekrümmt, wie von selbst fanden sie zum Hals seines Peinigers und schlossen sich und drückten und pressten…

Richard Gulda seufzte. Haßerfüllt blickte er in das Gesicht seines toten Chefs, der ihm gegenüber an der Wand lehnte. Im Todeskampf hatte sich sein Gesicht zu einer grässlichen Grimasse verzogen. Die Ober- und die Unterlippe waren wie zu einem grotesken Grinsen zurückgezogen und gaben den Blick auf Kronzuckers makelloses Gebiss frei. Es sah aus, als fletsche er die Zähne. Seine leeren Augen waren nach oben gerichtet und blickten stier in den kleinen Ausschnitt Himmel, wo lustige weiße Schäfchenwölkchen von einem frischen Wind zusammengetrieben wurden. Es war nicht mehr zu übersehen, dass es bald regnen würde.
Gulda überlegte. Irgendwann müsste jemand vom Personal in der Villa auftauchen und sie beide aus ihrem unfreiwilligen Gefängnis befreien. Wenn er seinen einheimischen Rettern erklären könnte, dass alles ein Unfall war, würde er immerhin Zeit gewinnen. Wenn man ihm glauben würde, dass Kronzucker sich seine tödlichen Verletzungen beim Sturz in dieses verdammte Loch zugezogen hatte, nachdem sie beide etwas gefeiert hatten… Sie verstehen schon, Herr Wachtmeister, wir waren ziemlich betrunken!
In der Gerichtsmedizin würde man sehr schnell die Wundmale um Kronzuckers Hals entdecken. Dann würden sie ihn jagen. Doch bis dahin könnte er, Gulda, schon längst auf dem Weg nach Südamerika sein, von wo man ihn nicht ausliefern würde. Ächzend richtete er sich auf. Sofort begann sein Knöchel höllisch zu pochen. Bei seinem Sturz war Kronzucker auf ihn gefallen und hatte ihn halb unter sich begraben. Ein stechender Schmerz hatte ihn aufheulen lassen und das Wasser war Gulda in die Augen geschossen, als ihm klar geworden war, dass er sich seinen Knöchel zumindest verstaucht, vielleicht sogar gebrochen hatte.

Er biss die Zähne zusammen und starrte nach oben. Eingerahmt von den türkisgrünen Kacheln blickte er in ein drei mal drei Meter großes Himmelsfenster, in dem der Wind schwere graue Wolken aufeinandertürmte und wieder zerriss. Richard Gulda war gefangen. Zusammen mit seinem toten Chef und Komplizen. Eingesperrt in ein gekacheltes Verlies mit sechs Quadratmetern Grundfläche, etwa doppelt mannshoch. Die glasierten Kacheln an den Wänden hätten selbst einem sportlicheren Mann als Richard Gulda ein Entkommen unmöglich gemacht. Selbst wenn er auf die Leiche kletterte, konnte er noch nicht einmal annähernd den oberen Rand seines Gefängnisses erreichen, das war ihm schnell klar geworden. Es bleib ihm nichts anderes übrig, als zu warten, bis das einheimische Personal oder die Bauarbeiter irgendwann zurückkehrten und ihn aus seiner misslichen Lage befreiten. Gulda fluchte und kauerte sich ächzend wieder in seine Ecke. Das war doch wirklich verfluchtes Pech! Tränen des Selbstmitleids stiegen ihm in die Augen, als er seine Lage überdachte.

Er hatte geplant, die Leiche Kronzuckers einfach durch den Garten zu schleifen und über die Klippen zu befördern. Dann hätte er im Haus die Kampfspuren beseitigt, die Blutspuren aufgewischt, die zwei Aluminiumkoffer mit dem Bargeld genommen und wäre verschwunden. Die Papiere hätte er dagelassen. In der Firma wäre man schnell dahinter gekommen, wer hinter der Katastrophe steckte, doch das spurlose Verschwinden des Juniors plus die Papiere in dessen Ferienhaus hätten die Ermittlungen sicher eher auf die Fährte von Kronzucker jun. geführt als auf die des unscheinbaren Buchhalters. Bis die See die Leiche irgendwo an Land gespült und man erkannt hätte, dass diese Fährte schon lange kalt war, hätte Gulda schon unter einem falschen Namen sein zweites, sein richtiges Leben begonnen haben können. Doch es war ganz anders gekommen.

Keuchend hatte Gulda den schweren Körper des Juniors zur Eingangstüre hinaus und in den Garten befördert. Kronzucker war im Leben ein massiger Mann gewesen; und als er tot war, schien er wie am Boden festgenagelt. Gulda arbeitete sich rückwärts durch den Garten und schleifte den Junior an den Füßen hinter sich her. Der Garten war eine einzige Baustelle, Schleifspuren, sollte es auf der hart gebackenen Erde überhaupt welche geben, würden gar nicht weiter auffallen. Mehr als einmal glitt Gulda auf dem unebenen, umgegrabenen Erdboden aus und schlug der Länge nach hin. Dass er in völliger Dunkelheit arbeiten musste, erleichterte die Sache nicht gerade. Der Schweiß floss ihm in Strömen über das Gesicht, in den Hemdkragen und kitzelte ihn unter den Achseln. Keuchend zog er den Junior ruckweise weiter. Und dann passierte es. Er hatte wohl bemerkt, dass seine tastenden Schritte hohl nachhallten. Und dass der Leichnam auf einmal ein ganzes Stück vorwärts glitt, als läge er auf einer glatten Fläche, wie… Holzbohlen. Aber noch ehe ihm klar wurde, in welcher Gefahr er sich befand, ertönte ein lautes Knirschen, ein hohler Knall, der Boden gab unter seinen Füßen nach und Gulda stürzte, wild um sich schlagend, in die Tiefe.

5.

Als er nach einer Schrecksekunde wieder zu sich kam, bemerkte er zuerst den pochenden Schmerz in seinem Knöchel. Der Junior lag noch halb auf ihm; und beim Versuch, seine Füße frei zu bekommen, wurde das Pochen zu einem jähen Stich, der durch sein Bein jagte. Er schrie auf. Der Schrei klang unnatürlich laut und wurde von den glatten Wänden wieder zurückgeworfen. Gulda erschrak. Schnell wurde ihm klar, wo er sich befand: Er war, gemeinsam mit der Leiche Kronzuckers und einigen Holzsplittern, in die neue Zisterne gestürzt. Das glatt geflieste Loch im Boden war nur mit ein paar Planken abgedeckt gewesen – wozu auch mehr: Das Grundstück war gut gesichert gegen unbefugte Eindringlinge und niemand wusste, dass der Hausherr hatte herkommen wollen. Eine Person alleine hätten die Planken vermutlich auch zu tragen vermocht – unter dem vereinten Gewicht von Gulda und seinem Opfer allerdings waren sie geborsten wie morsche Knochen. Gulda richtete sich an der Wand auf; und die Kacheln fühlten sich glatt und kühl an – wie Glas. Als er das erste Mal nach oben blickte, verblassten gerade die letzten Sterne in dem drei mal drei Meter großen Viereck.

Über seinen Grübeleien war es inzwischen Nachmittag geworden. Das Viereck aus Licht, das durch die Öffnung fiel, war einmal quer durch den Raum gewandert, um an der entgegengesetzten Wand wieder nach oben zu klettern. Inzwischen war das Viereck nicht mehr klar zu erkennen. Der Himmel hatte sich verfinstert und dunkle Wolken verdeckten die Sonne. Der Monsun war da. Endlich! Die Bauern würden sich freuen. In ein paar Minuten würden sintflutartige Regenfälle auf die Insel niedergehen und den festgebackenen, ausgedörrten Boden aufweichen. Gulda blickte wieder hinauf. Und mit einem Mal traf ihn die Erkenntnis wie ein Blitzschlag! Seine Oberlippe begann wieder zu zittern. Zu- und Ablauf der Zisterne lagen etwa einen dreiviertel Meter unter dem Rand der gekachelten Wände. Das bedeutete, selbst wenn die Zisterne voll war, gab es für Gulda keine Möglichkeit, zu entkommen. An den türkisen Kacheln gab es keinen Halt, an dem er sich hätte hinaufziehen oder festhalten können und selbst schwimmend war der Rand nicht zu greifen. Wenn die Regenfälle einsetzten, saugte das Vulkangestein der Berghänge das Wasser gierig auf wie ein Schwamm, um es ein paar hundert Meter weiter unten, aus zahllosen sprudelnden Quellen, wieder ans Tageslicht zu speien. Die Quellen speisten Bäche, Kanäle, Wassergräben, sie bewässerten die Felder der Bauern und füllten die Zisternen, aus denen alle Höfe im Hinterland ihr Frischwasser bezogen. Gurgelnd und rauschend würde das frische, klare Wasser binnen kürzester Zeit die Rohrleitungen aus gebranntem Ton anfüllen und sich in zahllosen Sturzbächen in Brunnentröge und Regentonnen ergießen. Auch aus diesem schwarzen Rund, zwei Meter über Guldas Kopf, würde das Wasser in paradiesischem Überfluss herausschießen, die Zisterne bis zum Rand füllen und er, Richard Gulda, den niemals wieder jemand hätte Versager schimpfen können, würde wie eine Ratte ersaufen!

Vielleicht könnte er sich noch ein paar Stunden über Wasser halten, blind und taub von dem unbarmherzig und unablässig aus der Rohrleitung auf ihn niederprasselnden Strahl; hustend, nach Luft schnappend. Doch der auftreibende Leichnam des Mannes, den er getötet hatte, würde ihn beim Schwimmen behindern und irgendwann müsste er aufgeben. Dann würde das Wasser, das den Bauern die Ernte und dem Vieh das nackte Leben rettete, seine Lungen füllen und das Leben aus ihm herauspressen. Zuckend würde er auf den Grund der Zisterne sinken und einen letzten Blick nach oben schicken; wo, mit dem Gesicht nach unten, der Junior triebe, die Lungen noch voll Luft, und sein Haifischgrinsen auf Gulda niederbleckte …

Richard Guldas Oberlippe zuckte wie unter Strom; und ein irres Kichern schüttelte seinen Körper, als mit einem Donnerschlag der Himmel aufriss und die ersten Tropfen fielen.

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